Fünf Finger für einen Diamanten

Fünf Finger für einen Diamanten

Wenn ein Künstler wie Jochem Hendricks schon vor dem Interview sagt, dass er eine “krasse Show” zu bieten hat – dann kann man ihn getrost beim Wort nehmen. Seine Kunstwerke benötigen meist mehrere Jahre, beschäftigen Juristen, Expertinnen und Naturwissenschaftler und bewegen sich bisweilen am Rande der Legalität. Es ist ein verschneiter, trüber Nachmittag, als wir den Konzeptkünstler in seinem neuen Offenbacher Atelier zum Interview treffen.

Text: Lucas Muth
Datum: 26.01.2023

Bilder: Paul Kremershof

Der in Schlüchtern geborene Jochem Hendricks ist im Mai 2022 von Frankfurt nach Offenbach gezogen. Seine künstlerische Palette ist breit – eines aber eint fast alle seine Kunstwerke: Sie sind außergewöhnlich, denken vom Ganzen her und sind oft provokativ. Der Querschnitt seiner Kunst reicht von Skulptur bis hin zu Fotografie, Film, Malerei, Zeichnung oder Text.  

Kooperation, so erklärt er uns, ist für ihn die Basis aller seiner Kunstwerke. In Zusammenarbeit mit Wissenschaftlerinnen und Forschungsinstituten, mit Technikern, Künstlerinnen, Anwälten, Unternehmen und Spezialisten aller Art auf der Grundlage eines ständig wachsenden, internationalen Netzwerks entstehen seine oft über mehrere Jahre laufenden Kunstprojekte. Hendricks' Praxis erforscht die sozialen und ökonomischen Codes und Grenzen, nach denen wir leben, und hinterfragt ebenfalls gängige Vorstellungen von Schönheit und Wert.  

Jochem Hendricks hat schon in vielen internationalen Museen und Kunstinstituten ausgestellt – u.a. im San Francisco Museum of Modern Art, dem Museum of Arts and Design in New York und der Bundeskunsthalle Bonn. Zu seinen bekanntesten Kunstprojekten gehören die “United Fingers”, bei dem er menschliche Finger von fünf Kontinenten zu einem Diamanten pressen ließ. 2015 veröffentlichte er das “Revolutionary Archive”, eine Sammlung mit Polizeifotos und -videos aus der Hochzeit der RAF. Sein neustes Projekt, die LP “Whorled Wet Ear”. In Zusammenarbeit mit dem Musiker Luc Döbereiner hat Jochem Hendricks das bekannte Musikstück dekonstruiert und neu zusammengesetzt. Das ursprüngliche Stück wurde fünfmal in unterschiedlich lange Schnipsel geschnitten und dann in unterschiedlicher Dichte neu arrangiert. 

 
 

„Whorled Wet Ear“ ist eine LP (Langspielplatte) und die Musik der Schlussstein zu einer mehrteiligen Werkgruppe. Dazu muss ich etwas ausholen: Nach den „United Fingers” kam es zu einer ausgedehnten Zusammenarbeit mit dem Max Planck Institut für Polymer Forschung, mit der Abteilung von Professor Dr. Mischa Bonn in Mainz, den ich dafür gewinnen konnte, mit einem Künstler zusammenzuarbeiten. Was wir dort gemacht haben, baut auf „United Fingers“ auf, aber gewissermaßen von der entgegengesetzten Seite aus.

 
 

Können Sie uns das genauer erklären? 

Wir haben hier nicht menschliche Organe verdichtet, sondern haben menschliches Zellmaterial von allen fünf Kontinenten genommen, gezüchtet und dann zu einer Zellkultur fusioniert. Der umgekehrte Prozess also, und am Ende kommt dann so etwas heraus wie ein Homunkulus. Er ist fast unsichtbar. 

 

Ist das nicht etwas unbefriedigend, sich so einen riesigen Aufwand zu machen und am Ende ein kaum wahrnehmbares Ergebnis zu bekommen? 

Ich gebe zu, es macht mir extra große Freude, so einen wahnsinnigen Aufwand zu betreiben, und am Ende ist das Ergebnis aber fast nicht sichtbar. Ich liebe das Unsichtbare, das fand ich ganz großartig. Es hat eine große Potenz für die Anregung Ihrer Vorstellungskraft, also die Vorstellungskraft des Betrachters. Die Platte heißt als Projekt „Sound Union", die Projekte mit dem Institut heißen „Hot Union” und „Soft Union”, der eigentliche Titel des Sound Pieces ist „Whorled Wet Ear”.  

 
Ein Schaltplattenspieler neben einer Musikanlage..
 

Können Sie uns mehr zum Titel der LP erzählen? Was bedeutet er? 

Das Ausgangsmaterial des Musikstücks ist „We are the World” von Michael Jackson, aber in einer stark veränderten Version. Ich habe dieses Stück zusammen mit dem Komponisten Luc Döbereiner in Berlin bearbeitet, d. h. dekonstruiert und neu zusammengebaut. In Zusammenarbeit mit dem Grafiker Harald Pridgar und dem Mediendesigner Philipp Medrala ist dann das Cover entstanden. Die Grafik des Original Covers von 1985 ist in meinem Cover vollständig enthalten, aber sie ist nach einer Art Random-System komplett neu gemischt. Die Musik ist nach klaren Prinzipien so bearbeitet, dass sie nicht einfach nur chaotisch ist sondern sehr strukturiert. Wenn man sich eingehört hat, wird deutlich, dass das Ganze eine musikalische Qualität hat. Dafür brauchte ich natürlich einen Musiker, weil ich keiner bin. Der Titel „Whorled Wet Ear” ist ein Anagramm aus “We are the World” und heißt auf Deutsch etwa: “Gequirltes, nasses Ohr.” Wunderbar!

 

Und wie war das mit dem Projekt “United Fingers”? Dieses Projekt lief insgesamt über 10 Jahre. Bleibt da Frustration manchmal nicht aus?  

United Fingers ist ein sehr groß angelegtes Projekt. Das hat mich zwölf Jahre beschäftigt, und es war nicht immer lustig, denn man braucht für so etwas wahnsinnig viel Geduld. Es kommt regelmässig Frustration auf, wenn Du Kontakte suchst, ein Material suchst und es echt schwierig ist und dann nicht klappt, oder wenn man plötzlich nichts mehr hört von den Leuten. Irgendwann hatte ich auch das Gefühl, dass das nicht gehen kann, es zu komplex ist, es nichts werden kann, und dann habe ich doch nicht locker gelassen, weil ich dachte: Genau wegen so was bist du Künstler geworden! Also weitermachen. Und irgendwann hat es dann auch funktioniert. Aber es hat tatsächlich fast zwölf Jahre gedauert. 

 

Können Sie uns kurz das Prinzip hinter “United Fingers” erklären? 

Ja, also inhaltlich heißt es, dass ich aus fünf Fingern einen synthetischen Diamanten habe machen lassen, und jeder Finger ist von einem anderen Kontinent, so dass die Welt in diesem Diamanten vereint ist. Die Synthese herzustellen, ist nicht das große Problem gewesen. Ich arbeite schon seit langer Zeit, seit 2002 mit synthetischen Diamanten, deshalb stand dieses Setting früh fest. Aber die fünf Finger zu kriegen, das ist schlichtweg überall illegal. Und es geht nur, wenn man sich Kontakte sehr vorsichtig aufbaut. Da will auch keiner genannt werden. Es gibt natürlich auch keine Fotos davon. Aber das Setting ist so aufgesetzt, dass ich sicher sein kann, dass das Ganze sauber abläuft und niemand zu Schaden kommt. Das ist mir sehr wichtig. Das Projekt ist auch ein gutes Beispiel für die Richtung, in die meine Arbeit in den letzten zehn Jahren zunehmend gegangen ist, dass nämlich die Projekte immer globaler wurden. Mein Netzwerk wurde immer größer, und ich habe auch mehr und mehr interessante Leute kennengelernt. Irgendwann hat sich das verselbstständigt. Mir wurde klar, dass die Thematik des Globalen Teil meiner Arbeit geworden ist.