Stimme der Codas: schauspielerin Annalisa Weyel
Die aus Butzbach in der Wetterau kommende Annalisa Weyel ist eine deutsche Schauspielerin, die durch ihre Rolle als Alva Rehbein in der beliebten deutschen Fernsehserie “Schloss Einstein” bekannt wurde. 2000 geboren, wuchs Annalisa mit gehörlosen Eltern auf und spricht fließend die Deutsche Gebärdensprache. Sie ist Coda, Child of Deaf Adults, also Personen, die zwischen der gehörlosen und hörenden Kultur leben.
Text und Fotos: Paul Kremershof
Datum: 26.03.2023
Annalisa, du kommst ursprünglich aus Butzbach. Hast du schon als Kind eine Affinität zum Schauspiel gehabt?
Annalisa Weyel: Also ich bin in Butzbach aufgewachsen, aber in Bad Nauheim geboren. Später sind wir von Butzbach nach Rockenberg und dann wieder nach Butzbach gezogen. Dort bin ich dann auch zur Schule gegangen. Parallel war ich in einem Kinder-Tanz-Theater und in der Weidig-Schule gab es eine Musical-AG und Darstellendes Spiel als Unterrichtsfach.
Und deine Schauspielkarriere begann mit einer Rolle bei der bekannten KiKa-Serie “Schloss Einstein”?
Genau, als ich zwölf Jahre alt war gab es einen Casting-Aufruf für “Schloss Einstein”, ich habe mich beworben und wurde genommen. Das war der Startpunkt. Die Serie wurde in Erfurt gedreht, weshalb ich dann für drei Jahre, also drei Staffeln, dorthin gezogen bin.
Wie hat sich dann dein Alltag in Erfurt gestaltet?
Wir wurden von der Schule abgeholt zum Dreh bis nachmittags/abends. Für mich hat es auf diese Weise gut geklappt, da ich noch nie große Schwierigkeiten in der Schule hatte und ich es auch gewöhnt war, viel allein zu machen.
Und wie ging es dann weiter?
Ich bin zurückgekommen, weil ich in Butzbach an meiner alten Schule Abitur machen wollte. Danach habe ich dann angefangen, Germanistik und Anglistik zu studieren. Ich hatte schon immer eine besondere Verbindung zu Frankfurt. Meine Eltern haben sich hier kennengelernt, mein Papa arbeitet hier.
Warum hast du dich gegen das Schauspielstudium und für ein sprachbezogenes Studium entschieden?
Ich habe überlegt, Schauspiel zu studieren, aber habe dann gemerkt, dass das schon sehr viel Raum in meinem Leben eingenommen hat und ich auch nochmal etwas anderes ausprobieren wollte. Ich habe schon immer gerne gelesen und war sehr an Sprache interessiert, deswegen habe ich mich für diese Fächerauswahl entschieden. Und gerade schreibe ich an meiner Bachelorarbeit.
Und worüber schreibst du deine Bachelorarbeit?
Ich schreibe über die Repräsentation von Codas in deutscher Literatur und in Filmen der Gegenwart. Also in welcher Art und Weise sie dargestellt werden und wie der Kontext von den Werken aussieht. Am Anfang habe ich versucht, mich auf deutschsprachige Werke einzuschränken, dann aber gemerkt, dass es nur sehr wenig Literatur oder Filme in deutscher Sprache gibt. Deswegen nehme ich jetzt auch anderssprachige Werke mit in die Auswahl.
Wie ist es, als Coda aufzuwachsen? Kann man sich das ein bisschen wie Zweisprachigkeit vorstellen?
Viele Codas wachsen zweisprachig auf – aber eben auch in zwei verschiedenen Kulturen. Das Besondere an der Gehörlosen-Kultur ist ja, dass meine Eltern, obwohl sie in Deutschland geboren, mit deutschen Eltern aufgewachsen und deutsch sozialisiert sind, dadurch, dass sie eine Behinderung haben, in einer anderen Kulturform leben.
Gibt es viel Vernetzung untereinander?
Früher, als meine Eltern noch jünger waren, lief die Vernetzung fast nur über Sportvereine. Mein Vater war im Gehörlosen-Radsport sehr aktiv, es gibt die Deaf-Olympics und dadurch ist er mit Gehörlosen auf der ganzen Welt in Kontakt gekommen. Meine Mutter hat mit mehreren Freund*innen die christliche Gehörlosen-Gemeinde in Friedberg gegründet.
Wie war es dann im Alltag bei euch Zuhause? Da gibt es viele akustische Signale, vom Wecker bis zum Telefon.
Dadurch, dass ich im Jahr 2000 geboren wurde und die Technik damals schon relativ weit war, hatten wir schon als ich geboren wurde, z.B. einen Blitz-Wecker. Also wenn der Wecker klingelt, das Baby geschrien hat, Feueralarm losging usw. wurde das alles über visuelle Signale sichtbar gemacht. Aber trotzdem bin ich natürlich mit dem Bewusstsein aufgewachsen, dass die meisten Menschen meine Eltern nicht verstehen und gleichzeitig mit dem Wissen, dass ich daran etwas ändern kann. Das war manchmal auch belastend.
Hast du zuerst die Gebärdensprache gelernt?
Kinder können sich motorisch schon etwas früher ausdrücken als über das Sprachorgan. Jenes entwickelt sich einfach später, das ist ganz normal und deswegen konnte ich auch viel früher mit meinen Eltern kommunizieren.
Ist es für dich indifferent, Lautsprache und Gebärdensprache? Sind die Übergänge fließend?
Ja schon. Beide Sprachen fühlen sich für mich ganz natürlich an, aber ich merke schon, dass die DGS mir auf jeden Fall näher ist, auch und gerade emotional. Bei bestimmten Themen kann ich mich damit einfach besser ausdrücken, weil es meine erste Sprache ist und es ist eben auch die Sprache meiner Eltern. Deswegen habe ich eine andere Verbindung zur DGS als zur Lautsprache.
Und wenn man dir auf Instagram folgt, ist das dort ja auch ein großes Thema für dich. Du räumst dort mit vielen Vorurteilen auf. Was ist deine Mission?
Ich hatte schon von klein auf ein sehr starkes Gefühl für die Ungerechtigkeit in unserer Gesellschaft gegenüber gehörlosen Menschen und Codas. Ich habe die verschiedensten Arten der Diskriminierung mitbekommen: Dolmetscher*innen wurden nicht genehmigt, irgendwelche Anträge gehen nicht durch oder wenn meine Eltern von ihrer Schulzeit erzählt haben. Damals war die Gebärdensprache an den meisten Gehörlosenschulen noch komplett verboten. Und ich habe dann schon relativ früh nach dem Abi gemerkt, dass ich irgendetwas dagegen machen möchte und an die Öffentlichkeit gehen will. Während Corona habe ich das dann vor allem über Social Media gemacht. Und es ist auch ein gutes Gefühl, weil ich gemerkt habe, dass viele Leute nichts darüber wissen und dadurch überhaupt erst mal lernen, was zum Beispiel das Wort Coda bedeutet oder was eine Gehörlosen-Kultur überhaupt sein kann.
Viele Menschen sind auch sehr aufgeschlossen aber diskriminieren oft unbewusst.
Genau, es geht ganz einfach, von diesem Begriff “taubstumm”, der leider immer noch verbreitet ist. Viele Menschen wissen aber nicht, dass er diskriminierend ist. Und das geht dann bis dahin, dass Menschen manchmal davon ausgehen, dass gehörlose Menschen auch immer eine geistige Behinderung haben oder allgemein, dass Menschen, die gehörlos sind, eigentlich einen Defekt haben und dass sie auch nie so ein erfülltes Leben haben können wie hörende Menschen. Für mich gibt es aber überhaupt keine Abstufung, ob man hören kann oder nicht, das hat nichts mit der Lebensqualität zu tun. Klar haben meine Eltern mehr Schwierigkeiten im Leben, was aber nicht daran liegt, dass sie gehörlos sind, sondern daran, dass die Gesellschaft diskriminierend gegenüber gehörlosen Menschen ist. Und meine Eltern fühlen sich auch wohl in ihrer Gehörlosigkeit und würden auch nichts daran ändern, wenn sie könnten. Etwa mit einem CI (Cochlea-Implantat Anm. d. Red.), mit dem man das Hörvermögen in manchen Fällen etwas verbessern kann.
Was würdest du dir denn wünschen? Was kann man selbst tun?
Ich weiß, dass viele Menschen Interesse daran haben, auch ein ehrliches Interesse. Und es scheitert meistens daran, dass diese Menschen keine oder falsche Informationen über das Thema haben. Und ich glaube, dass schon viel verändert werden würde, wenn man im Bildungssystem früh darüber aufklären würde, weil die Menschen, die in den entscheidenden Positionen sitzen, dann schon ein Grundwissen hätten über diese Kultur und über die Sprache. Und wenn man einen Gebärdensprachkurs einbaut, in der, beispielsweise fünften oder sechsten Klasse über zwei Jahre, wo nur die Basics erklärt werden, wäre auch schon vielen Menschen geholfen, weil meine Eltern ja noch nicht mal in der Bäckerei auf ihrer eigenen Sprache etwas bestellen können. Ich glaube, wenn die Sprache mehr verbreitet werden würde, dann wäre ein großer Schritt getan.
Kannst du außer der deutschen noch andere Gebärdensprachen?
Ich kann dadurch, dass es sehr viele Coda-Influencer aus den USA kommen, ein bisschen die ASL (American Sign Language Anm. d. Red.) benutzen. Die Gebärdensprachen sind sich untereinander ähnlicher als die Lautsprachen. Wir hatten zum Beispiel schon einmal Besuch von einem Paar aus Südkorea und wir konnten sie auch verstehen. Und wenn jetzt jemand Koreanisch mit mir sprechen würde in der Lautsprache, dann würde ich überhaupt nichts verstehen, deswegen hat die Gebärdensprache schon Vorteile.
Gebärdensprache haben auch Dialekte. Gibt es z.B. einen Hessischen Mund- bzw. Gebärdenart?
Ja, also ich benutze einen hessischen Dialekt. Ich war letztes Jahr für ein Theaterprojekt in Berlin, wo wir auch mit gehörlosen Schauspieler*innen gespielt haben, und die haben teilweise eher einen Berliner Dialekt gehabt. Da habe ich dann auch einige neue Wörter gelernt.
Die Grammatik ist auch sehr viel einfacher in der Gebärdensprache, oder?
Ja, genau. Also das Gute ist, dass die Verben nicht konjugiert werden. Es gibt auch kein keine Vergangenheitsform, die über die Endung der Verben erkennbar wäre. Es wird sehr viel Grammatik vor allem über Mimik und Körperhaltung transportiert.
Beim Übersetzen gibt es immer “Reibungsverluste”, ist das beim Gebärdensprache-Dolmetschen auch so?
Auf jeden Fall! Die DGS ist so ausdrucksstark und in einer Gebärde sind gleichzeitig so viele verschiedene Emotionen drin, dass man das nie ganz in die Lautsprache übersetzen könnte. Das finde ich auch schön. Wenn ich dolmetsche, ist es auch immer ein bisschen eine kulturelle Übersetzung.
Noch ein paar Fragen zu Frankfurt: Wo gehst du am liebsten mit Freunden aus Frankfurt hin?
Also ich wohne in Bockenheim, deswegen: ganz Bockenheim! Ich liebe alles auf der Leipziger Straße: Die Restaurants, Cafés und in Hausen das Freibad im Sommer.
Und mit Freunden, die nicht aus Frankfurt kommen bzw. nicht dort wohnen?
Ich würde wahrscheinlich in eines der riesigen Kunstmuseen gehen, vielleicht in die Schirn. Letztens kam Besuch von außerhalb, da waren wir beim Städel-Rundgang. Nach Sachsenhausen würde ich vielleicht noch gehen. Da gibt es auch diesen Vintage-Revivals-Laden, den mag ich sehr gerne. Ansonsten in den Nidda-Park. Der ist auch richtig, richtig schön und es ist super, dort Fahrrad zu fahren, wenn die Sonne scheint.
Und was machst du mit der Familie, wenn sie in Frankfurt zu Besuch ist?
Meistens Essen gehen in Frankfurt, weil die Auswahl so riesig ist. Letztens waren wir im Kuli Alma, einem veganen israelischen Restaurant in der Nähe der Deutschen Nationalbibliothek. Das war richtig gut.
Und wenn du einen Film drehen würdest in Frankfurt, wo wäre das?
Wahrscheinlich im Ostpark. Den mag ich total und da könnte man viel draus machen. Oder eben in Bockenheim aber das wäre dann vielleicht eine andere Story: eher eine Sitcom.
Vielen Dank für das Gespräch!
Wie kann Kreativität noch Inklusion unterstützen? Zum Beispiel durch Universelles Design: Mehr Informationen dazu findet ihr in unserem Blogbeitrag über den Hessischen Staatspreis für Universelles Design!